Lehrgeld, Lehrgeld, Lehrgeld! Und ein »Wunder«!
To get a Google translation use this link.
04.04.2018
Mitten in der Nacht werde ich wach. Kräftiger Wind pustet gegen mein Zelt. Hoffentlich hast du den Morgen im Rücken, denke ich mir, ehe die Augen doch nochmal zu fallen. Das nächste Mal weckt mich das Vogelgezwitscher. Mein Wecker selbst denkt lange noch nicht ans Lärmen. Noch etwas dösen und doch auf das »Signal« warten? Ach, komm. Mach mal.
Nein! Raus! Du hast heute achtzig Kilometer vor dir. Je früher du wieder im Sattel sitzt, desto eher bist du am nächsten Campingplatz. Dann hast du vielleicht auch mal die Zeit, dass du den Campingstuhl auspacken und in die Abendsonne blinzeln kannst. Nicht erst bei sich verdunkelnden Himmel das Zelt aufbauen. Alles eben viel früher machen und dann alle Fünfe gerade sein lassen.
Mit gemächlichem Tempo baue ich alles ab und verstaue es wieder am Fahrrad bzw. dem Anhänger. Zu guter Letzt noch die Übernachtung auf dem Campingplatz bezahlt und weiter. Dreißig Kilometer sind es bis Bremen, Farge. Dort, wo ich mit der Fähre über die Weser übersetzen möchte. Eigentlich wollte ich weiter nördlich, doch die Leute am Vorabend in der Wirtschaft sagten, ich solle die Verbindung Farge – Berne nehmen. Es sei dichter und außerdem könnte ich mit dem Jadebusen in Konflikt kommen, wenn ich den Weg zu weit nördlich ansetze. Zetel ist das angepeilte Ziel. Also nehme ich den Tipp an, doch weiter südlich zu radeln.
Direkt neben dem Anleger gibt es ein Hotel. Das Restaurant ist geöffnet. Also, warum soll ich mir nicht eine kleine Pause am Weserufer gönnen? Schon im Eingangsbereich überkommt mich ein leicht sonderliches Gefühl. Auf der Außenterrasse bin ich mir dann sicher. Hier bist du schon einmal gewesen. Vor Jahren: Lang, lang ist es her. Aber den genauen Umstand von damals kann ich mir nicht ganz zusammenreimen. Fix eine Info an zu Hause weitergegeben, dass ich an der Weser bin und pausiere. Nebenbei frage ich, warum mir der Laden so bekannt vorkommt.
Dann schnellt die Handfläche vor die Stirn. Klar! Feuerwehr! Fahrt ins Blaue! Anno dazumal! Warum bin ich nicht gleich darauf gekommen? Manchmal steht man halt etwas neben sich. Zum Glück hat man seine Telefonjoker.
Auf der anderen Flussseite komme ich gedanklich ein weiteres Mal ins Stocken. Zetel hatte ich angepeilt. Fünfzig Kilometer noch zu radeln. Dreißig hast du bis hier her. Es ist der halbe Nachmittag ist bald vorbei. Willst du wirklich noch so weit? Wie weit ist Rastede weg? Schnell das Navi gefragt. Zwanzig weniger. Das klingt doch viel humaner. Dann bist du gegen siebzehn Uhr da. Ja, los. Etappenziel geändert. Dass mir diese Entscheidung später noch den Hintern retten wird, kann ich zu dem Zeitpunkt nicht mal im Ansatz erahnen.
Der Weg führt mich eine ganze Weile am Weserdeich entlang. Ein tolles fahren. War es vom Teufelsmoor bis Farge eher unspektakulär, stets an den Hauptstraßen entlang, kann ich hier mal wieder über Nebenstrecken und Radwegen fahren. Fernab des hektischen Treibens, das auf den Straßen so herrscht.

So spule ich Kilometer um Kilometer runter. Die Gedanken schweifen durch die Weltgeschichte. Der Kopf ist nahezu leer. Einfach nur ich, das Fahrrad und der Asphalt unter den Rädern. Die Pedale rotieren mal schneller, mal langsamer. Die Gänge mal höher, mal tiefer gewählt. Mal führt der Weg links weiter, mal rechts. Mal grüßen die Leute zurück, mal bleiben sie stumm. Aber ich will mich nicht beschweren. In den ländlichen Regionen bekommen sie fast alle die Zähne auseinander. Erst wenn man wieder in Ballungszentren gelangt, werden die Menschen verschlossener und blicken dezent verstört, wenn man ihnen ein inbrünstiges »Moin« entgegen schmettert.
Gute zehn Kilometer bin ich schließlich nur noch von Rastede entfernt. Doch etwas scheint auf einmal anders. Der Freilauf stockt. Auch habe ich einen gewissen Leertritt in den Pedalen. Was ist das denn jetzt? Ich steige ab und untersuche das Hinterrad, soweit es das Gepäck zulässt. Speichen sind alle in Ordnung, so, wie ich das sehen kann. Ich versuche die Pedale rückwärts zu drehen. Auch das wirkt schwerer, als sonst. Die Kette? Die Zahnräder? Unwahrscheinlich. Alles kurz vor der Sechstausender-Kilometermarke erneuert. Das Tretlager? Nein, das ist fest. Fahr erst einmal weiter. Bis Rastede, schaffst du das. So hoffe ich zumindest. Der Ort ist groß genug. Da wird es mit Sicherheit einen Fahrradladen geben.
Die Entfernung nach Rastede schwindet immer langsamer. Die Probleme im Antrieb werden stetig gravierender. Zwischendrin steige ich immer mal ab und schiebe das Gespann, damit ich nicht noch völlig liegenbleibe. Vom Gedanken, dass es nichts Schlimmes ist, habe ich mich längst verabschiedet. Was es genau ist, weiß ich aber nicht. Noch nicht. In Rastede, direkt am Ortseingang taucht dann schließlich das Fahrradgeschäft Stückemann auf. Ich will gerade den Laden betreten, da steht ein älterer Herr neben mir, der mich freundlich begrüßt. Er hätte mich auf dem Weg hierher gesehen. Wo ich hinmöchte. Wo ich herkomme. Es fallen viele Fragen. Die ich anfänglich flüchtig beantworte, da ich auf mein Problem aufmerksam mache. Also rein ins Geschäft.
Sogleich ist einer aus der Werkstatt bei meinem »kranken« Esel. Das Gespann schnell getrennt, die Taschen abgenommen. Dann fällt das fast schon vernichtende Urteil. Das Hinterradlager hat sich zerlegt.
Was für eine Pleite!
Der ältere Herr steht wieder neben mir. Zusammen mit dem Monteur ertönt die Aussage, dass dieses Rad für die Belastung durch den Anhänger, mit dem Gepäck, obwohl ich weit unter der angegeben Höchstlast bin, nicht geeignet ist. Diesen Satz kenne ich doch schon. Ist es doch vor fast einem Jahr der gleiche Satz gewesen. Damals die Speichen. Jetzt das Lager. Ich dreh noch ab! Endtäuschung und Wut machen sich in mir breit. Ob man ein Rad auf Lager hätte, das mir zumindest hilft, meine Reise zu beenden, frage ich. Eilig werden die Bestände gecheckt. Die Antwort: Nein! Es ist fast Ladenschluss. Kein Ersatzrad da. Eine Bestellung würde drei bis vier Tage in Anspruch nehmen.
Also, ist die Reise beendet? Man schlägt mir vor, dass ich es doch bei der B.O.C. versuchen könne. Einem Outdoorladen, der auf solche Fälle spezialisiert ist. Eine Stunde länger geöffnet. Zehn Kilometer zu fahren. Mit dem Zustand des Fahrrads ambitioniert. Eine Jugendherberge befindet sich in unmittelbarer Nähe. Man ruft für mich dort an. Ich bräuchte jedoch einen Herbergsausweis, der genau ein Jahr gültig ist und zweiundzwanzig Europas kosten soll. Hinzu kommen die Nächtigungskosten von fast dreißig Euro. Zehn Kilometer zurück fahren. Hoffen, dass man es schafft und dann fast fünzig Kröten für eine Herberge bezahlen? Auf den Campingplatz in Rastede habe ich längst keine Lust mehr. Hier eine Pension suchen? In Oldenburg? Zumindest kannst du es morgen dann doch noch schaffen. Wenn sie dir helfen können, und das ist gerade der letzte Strohalm, an dem ich mich klammere. Dann kannst du es Freitag doch noch bis Harlesiel schaffen. Dass ich es bis morgen Abend schaffen könnte, habe ich schon viel früher verworfen.
Also was machen? Hinfahren? Zu viel Geld für die Herberge bezahlen? Oder hier im Ort schlafen und morgen in der Früh hinfahren? Ich werde es am nächsten Tag versuchen. Schnell eine Pension gesucht und angerufen. Zimmer wäre frei. Es kann losgehen. Fünfunddreißig ohne Frühstück. Ja, dann los! Gute zwei Kilometer von hier. Ich beginne des Tross wieder zusammenzubauen, da steht der Herr vom Anfang wieder neben mir und erkundigt sich nach meinem weiteren Vorhaben. Alles kurz erklärt und dann fällt ein Satz, der mich völlig aus den Socken haut.
Ich habe ein »Taxi« nach Oldenburg. Ich kann JETZT zum B.O.C. Ich kann mich JETZT nach einem neuen Hinterrad erkundigen. Und wenn es vorhanden ist, dann kann es gleich am nächsten Morgen repariert werden. Ich wäre dumm gewesen, wenn ich es nicht angenommen hätte. Also alles schnell in seinem Transporter verladen. Ich verabschiede mich noch schnell von meinem Monteur und drücke ihm eine Kleinigkeit für die Kaffeekasse in die Hand, dass er wirklich alles versucht hat, was Ersatzteile, Läden und Übernachtungsmöglichkeiten betrifft.
So sitze ich wenige Minuten neben Rainer, so heißt der ältere Herr. Auch er ist Radreisender und hat schon mehrere Touren über zweitausend Kilometer runter gestrampelt. Dass ich solch einen Menschen in solch einer Situation kennenlernen darf, kann mit Glück nichts mehr zu tun haben. Das scheint schon höhere Gewalt zu sein. So plaudern wir auf dem Weg nach Oldenburg, wie zwei Wasserfälle. Es sprudelt nur so aus uns beiden heraus. In Oldenburg selbst ist das »Wunder« dann komplett. Ich halte ein Hinterrad in der Hand. Zeit zur Reparatur ist jedoch nicht. Keine Monteure, zu viele Aufträge. Ein Dazwischenschieben ist unmöglich.
Rainer macht den Vorschlag, ich solle alles mit nach Rastede nehmen und dort wieder zu Stückemann gehen, die hätten die Möglichkeit. Ich nicke. Und schon wieder sitze ich mit meinem ganzen Kram bei Rainer im Auto. Wir fahren kurz zu ihm und er zeigt mir sein Equipment. Was absolut zu beneiden ist. Er macht seine Touren mit einem sogenannten »Fat-Bike«. Andere fahren damit über Sandstrände. Er durch ganz Deutschland. Letztendlich landen wir zwei in einer Kneipe. Irgendwie muss ich mich ja erkenntlich zeigen. So sitzen wir da und Rainer erzählt von seinem Leben. Wie er zum Radreisen gekommen ist. Dass er zwei Suchtkrankheiten bezwungen hat.
Aber auf »sich die Kugel geben« letztendlich keine Lust hatte. Da, so wie er sagt, das Leben viel zu schön sei. So fing er mit dem Radreisen an. Immer weiter. Immer mehr. Im Mai wird er fünf Wochen durch vier Länder radeln. Frankreich, der Schweiz, Österreich und durch Deutschland wieder bis nach Hause, Er gibt mir noch so machen Tipp mit, ehe er mich dann auch noch zu meiner Herberge fährt, was dem Regen geschuldet ist. Dieser Tag war letztendlich gefühlstechnisch unglaublich für mich. Vom tiefsten Winkel im Keller bis hinauf auf den Olymp der Glückseligkeit. Morgen geht es wieder zu Stückemann. Dann werde ich wieder im Sattel sitzen und weiter nach Harlesiel radeln. Rainer hat mir die Tour gerettet. Dafür werde ich ihm ewig dankbar sein! Wahnsinn …!
Fahrstrecke: 61,58 km
Höhenmeter: 224 m
Zeit: 5:29 h
D.-geschw.: 11,20 km/h
______________________________________________________________________________________
»Mütze On Tour« war, ist und wird für seine Leser immer kostenlos bleiben. Wenn Sie meine Berichterstattung allerdings mit einem kleinen Obolus honorieren möchten, dann klicken Sie bitte diesen PayPal-Link.
Ich danke Ihnen für Ihre Unterstützung ganz herzlich!
1 Kommentar »