Von Bayern nach Hause in sechs Etappen. Los geht’s!
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04.05.2019
Der Wecker hat diesen Morgen keine Chance gegen mich. Der Adrenalinspiegel ist derart hoch, dass ich weit vor dem ersten Radau wach werde. Nun würde es also ernst werden. Über siebenhundert Kilometer in sechs Tagen. Es kribbelt in mir. Der Blick geht aus dem Fenster. Es ist ein bedeckter Himmel, aber trocken scheint es zu sein. Ich schaffe mein Gepäck ins Erdgeschoss. Eile noch schnell zum Bäcker um die Ecke und hole mir etwas Proviant. Die erste Etappe würde zugleich die Längste sein. Wenn ich nach der Streckenaufzeichnung von Google-Maps gehe. Von Pilsach würde es am Donau-Main-Kanal erst nach Bamberg gehen und von dort dann am Main entlang bis nach Haßfurt. Zurückgedacht auf vor zwei Jahren, habe ich jetzt die damaligen zwei Etappen in eine gepackt. Gute einhundertfünfzig Kilometer. Die längste Tagestour, die ich je gefahren bin.
Ich lasse das Ortsschild hinter mir und fahre über den Berg, der mich von Pilsach nach Kadenzhofen bringt. In diesem beschaulichen Ort ist an diesem Wochenende Kirchweih. Ein herrliches Spektakel für Jung und Alt. Hätte ich die Tour mit meinen Übernachtungen nicht komplett durchgeplant, ich wäre bestimmt für eine weitere Nacht dort geblieben. So geht es aber nicht. Nicht, dass man versucht hätte, mich zum Umdenken zu bewegen. Aber es geht nicht. Die Zeit ist jetzt schon knapp bemessen. Ich muss Kilometer reißen. Wie ein Großer.

Auf diese Passage habe ich mich schon Wochen vorher gefreut. Vorgestern bin ich am alten Donau-Main-Kanal gen Beilngries gefahren, heute geht es nach Nürnberg. Und noch einmal: Dieser Streckenabschnitt ist unglaublich schön. Vor zwei Jahren hatte ich Dauerregen, als ich hier geradelt bin. Lotte hockte im Anhänger und bekundete durchweg Unmut. Regen liegt ihr eben nicht. Obwohl sie Labradorgene in sich hat. Heute regnet es nicht. Es sieht zwar durchweg danach aus, aber erst einmal habe ich Glück. Die Temperaturen sind recht angenehm. Mag aber auch an den Regenklamotten liegen, die ich vorsorglich angezogen habe.
Ich radel wieder an den Skulpturen vorbei, die man am Rande des Kanals aufgestellt hat. Bildnisse aus Stein, Metall oder Holz. Es fügt sich alles in die Landschaft ein. Rechts von mir geht es ins Tal hinab. Links liegt der Kanal. Enten ziehen hier ihre Bahnen. Schwäne. Und … echt große Fische. Karpfen. Bestimmt einen halben Meter lang. – Da kommt doch glatt eine Erinnerung hoch. Aus der Zeit meines aktiven Angelns hat mich meine Mutter oftmals aufgezogen, ob ich mit der Größenangabe nicht übertreiben würde. – Und natürlich übertreibe ich. Der halbe Meter ist nämlich der Augenabstand. Und jetzt darf die werte Leserschaft entscheiden, welche Aussage unrealistischer klingt.
Die Zeit schreitet voran und ich komme irgendwie nur schleppend vorwärts. Immer wieder halte ich an und bestaune die Natur, mache Bilder und trödel. Mal radel ich durch dichte Wälder, dann führt der Kanal wieder oberhalb eines Tals entlang, wo ich weit in die Talsohle blicken kann. Wieder bin ich stehengeblieben und krame aus der Lenkertasche die Kamera hervor. Eine Blaumeise baumelt kopfüber in einem Strauch und pickt an den Knospen herum, fliegt einige Zentimeter weiter und baumelt wieder. Ein drolliges Bild. Leider bleibt es mir verwehrt sie abzulichten.

Zwischendrin fällt mein Blick dann auf die vielen kleinen Schildchen, die hier und dort angeschlagen sind. Selbst hier läuft ein Ableger des Jacobsweges entlang. Wenn man sich mal den Streckenverlauf im Internet anschaut, dann sieht es wie ein riesiger Baum aus, der komplett über Europa liegt. So führt hier also auch ein ›Ast‹ entlang. Echt cool. Es kommt glatt ein wenig Wehmut auf, als ich an die Stadtgrenze von Nürnberg herankomme. Dieser Abschnitt hätte gerne länger sein dürfen. Nun fahre ich am modernen Kanal entlang. Vor zwei Jahren war dies anfänglich schwer diesen zu finden. Ich bin damals mit Lotte quer durch die Stadt geradelt. Dieses Mal bin ich aufmerksamer. Auf einem Wegweiser, der zum Stadtzentrum leitet, hat jemand mit Permanentmarker einen Hinweis zum »Neuen« Kanal gemacht. So umgehe ich den Stadtverkehr. Und ich scheine einige Kilometer einzusparen. So kommt es mir jedenfalls vor.
Mein Weg führt vorbei an den Hotelschiffen, die für die Flusskreuzfahrten neu beladen werden. Es herrscht reges Treiben. Überall stehen Laster. Proviant wird angeliefert. Trolleys mit Wäschebergen stehen auf dem Kai. Menschen wuseln umher, dass es eine Art hat. Was man sonst zum wirtschaftlich genutzten Kanal sagen kann, ist, dass er stinklangweilig ist. Alles gerade und schier. Eine Handvoll Ruderer ist hier unterwegs. Sonst passiert auf dem Wasser überhaupt nichts. Außer dass die vielen Regentropfen lauter Wellenkreise verursachen. Nun also doch noch von oben nass werden. Naja, im Wetterbericht wurde es angesagt.
Nicht nur das. Kräftiger Wind ist aufgekommen. Natürlich habe ich ihn von vorne. Rückenwind wäre ja auch zu einfach. Nun kämpfe ich halt mit Wind und Regen und gegen das langweilige Erscheinungsbild des Kanals. Echt ätzend hier. Die Landschaft ändert sich nicht mal wirklich. Ich kann auch nicht sagen, wo ich vor zwei Jahren mit Lotte wieder an das Ufer von eben diesem Gewässer gekommen bin. Ich stelle zwar Vermutungen an, bin mir aber nicht ansatzweise sicher, dass ich damals hier schon am Wasser war. Es schaut alles gleich aus.
Da klingelt mein Telefon. Beim ersten Mal ignoriere ich es noch. Ich denke, dass mich mein Anbieter nerven möchte, wie er es die vergangenen Tage immer getan hat, was ich auch schon ignoriert habe. Unter einer Brücke schaue ich dann doch auf das Display. Eine Mobilnummer. Ruf mal zurück, denke ich mir. Mein Hotel in Haßfurt ist das. Wie weit ich denn bin und ob ich das Zimmer heute in Anspruch nehmen werde. Als ich Höhe Nürnberg angebe, ernte ich ein erstauntes ›Dort erst?‹. Was soll ich sagen? Ich habe am alten Kanal vor Nürnberg echt Zeit gelassen. Nun lasse ich Zeit, weil ich durch den Wind keine Geschwindigkeit aufbauen kann. Irgendwie bin ich auch am Körper total nass. Ich habe doch aber Regenklamotten an? Komisch. Ich mache die Andeutung, dass es spät werden könnte, was kein Problem darstellen würde. Dann ist ja gut.
Ich komme einfach nicht vorwärts. Es pustet und prasselt mir alles ins Gesicht. Die Luft ist so kalt geworden, dass auf dem Wasser dünner Nebel aufsteigt. Mittlerweile bin ich so wütend über die Situation, dass ich mein Fahrrad im Kanal versenken möchte. Was ich natürlich nicht mache, weil … wäre ja doof. Aber was passiert, wenn man wütend ist? Man macht Fehler. So passiert es auf Höhe Erlangen. Ich gelange an eine Schleuse. Diese Schleuse kenne ich, denn hier bin ich schon einmal gewesen, da bin ich mir ziemlich sicher. Und doch biege ich falsch ab. Ich lande in einer Ortschaft. Ist das schon Erlangen? Ich habe kein Ortsschild gesehen. Ein Wegweiser deutet Richtung Forchheim. Da möchte ich hin. Zwei Kreuzungen weiter ist dann aber auch dieser Wegweiser irgendwie weg. Die Straßen werden immer schmaler und plötzlich, nachdem ich über eine Brücke eine Bundesstraße, oder was das war, gequert habe, stehe ich in einem Wald. Naja, wenigstens habe ich jetzt Abwechslung. Vielleicht sehe ich hier ja mehr. Ein Eichhörnchen zum Beispiel. Ach, guck. Schön …
Ich mache das Navi an und möchte nach meinem Weg schauen. Der Kanal ist schon ein gutes Stück von mir weg. Das sehe ich, als ich die Karte über die Zoomfunktion immer weiter verkleinere. Nach Haßfurt sind es von hier gute achtzig Kilometer. Ich betrachte das Streckenprofil. Sonderlich viele, oder hohe Berge stehen mir nicht im Weg. Einer, der einen Höhenunterschied von dreihundert Metern aufweist. Da beißt du dich rüber, denke ich. So bleibe ich dem Wasser fern. Allerdings verfehle ich so meinen Streckenrekord für eine Tagesreise. Egal. Hier passiert wenigstens etwas. Es macht richtig Laune hier zu fahren. Dass ich nun mehrere kleinere Steigungen und Gefälle vor mir habe, das nehme ich einfach zur Kenntnis. Zwar muss ich auch mal schieben, doch auch das ist mir egal. Es ist nicht mehr so ätzend langweilig, wie am Kanal zwischen Nürnberg und Bamberg. Und es sind lauter neue Wegschildchen, die ich entdecken kann. Der Karpfenradweg zum Beispiel. Es sind noch zwei oder drei weitere Wege, die ich immer mal ein Stück verfolge. Leider ist mir nur der Name des Karpfenwegs im Kopf geblieben.

Bei Streckenkilometer siebzig entdecke ich ein Bushäuschen. Zeit für eine Pause. Raus aus dem Regen und einige Minuten auf einer Bank und nicht im Sattel gesessen. Kaum sitze ich, merke ich augenblicklich, wie die Kälte mir in die Klamotten kriecht. Dieses Gefühl ist im höchsten Maßen widerlich. Also schnell die Brötchen verdrückt und schnell weiter. Das Wärmepolster muss wieder aufgebaut werden, was nach der Pause nur schleppend gelingt. Immer wieder tauchen größere Stillgewässer auf. Zuchtteiche denke ich mir. Was den Namen Karpfenradweg erklären könnte. Sicher bin ich mir aber nicht.
Irgendwann ist es dann wieder so weit, dass mich das Navi von asphaltierten Straßen weg, in ein Waldgebiet führt. Ich soll geradeaus fahren. Das mache ich gefühlt auch, nur macht der Weg kurz darauf eine Linkskurve, was Protest meiner Technik nach sich zieht. Ich hätte einfach die Richtung beibehalten sollen. Ich schiebe zum Ausgangspunkt zurück und blicke mich um. Gerade aus? Ja … mit viel Phantasie ist dort mal ein Weg gewesen. Wie weit muss ich denn da lang? Dreihundert Meter? Hmm. Gibt es eine Alternative? Nicht wirklich. Ja, was mache ich jetzt? Einen größeren Umweg in Kauf nehmen, oder aber mit dem Kopf durch die Wand? Für dreihundert Meter? Kopf durch die Wand. Es ist nicht weit. Mach es!
Anfänglich komme ich auch noch recht gut voran. Ich schiebe das Fahrrad dort, wo mal die Spurrinne war. Die ersten hundert Meter sind ein Klacks. Doch dann wird das Unterholz immer dichter. Das Geäst der Bäume ragt weit in die ehemalige Schneise hinein. Ich bleibe stehen und überlege. Doch umdrehen und einen anderen Weg suchen? Ein Drittel habe ich hinter mir, denke ich. Los weiter. Mit dem Kopf voran drücke ich mich und den Drahtesel durch die dichten Zweige. Es raschelt und knackt um mich herum. Meine Füße drücken sich tief in das dicke, weiche Moos am Waldboden. Endlich gelange ich an eine etwas freiere Stelle. Ich blicke auf und sehe noch mehr Unterholz. Noch dichter. Junge Bäume sprießen dort, wo einst der Weg war. Das ist doch nicht wahr! Und jetzt? Vor mir ist alles zugewachsen. Hinter mir ist alles zugewachsen.

Ich versichere euch, wenn dort irgendwo ein Mensch seinen Nachmittagsspaziergang gemacht, und mich gehört hat, denkt er bestimmt das ist ein brünstiger Hirsch. Oder aber auch nur ein Irrer mit seinem Rad. In einem letzten finalen Kraftakt breche ich aus dem Unterholz hervor und bin wieder auf einer befestigten Straße. Wenn das einer gesehen hätte, der hätte mich wohl glatt eingewiesen. Ich sitze im Sattel und muss über mich selber schmunzeln. Kaum erreiche ich die Waldgrenze, habe ich ein weiteres Mal einen mehr ungewöhnlichen Weg. Die ganze Hauptstraße ist hier aufgerissen. Soweit ich gucken kann, sehe ich Baustelle. Es ist nur das Kiesbett vorhanden, welches am Ende der Arbeiten die Asphaltdecke trägt.
Einige Kilometer weiter führt es mich abermals durch ein Waldstück. Dieses Mal ohne absurde Wegführungen. Und hier begegne ich dann doch noch einer Menschenseele. Ein Herr, der eine abendliche Runde dreht. Als ich ihm von meinem bisher erlebten erzähle, steht er da und lacht sich völlig schief. Neckisch frage ich, ob er mich auslacht. Er wischt sie eine Träne aus den Augen und meint, dass das die beste Geschichte ist, die er am heutigen Tag gehört hat. Er möchte wissen, wo ich noch hin möchte. Haßfurt? Das sei nun nur noch ein Steinwurf entfernt. Ich würde die Kammspitze zum Maintal in wenigen Hundert Metern erreichen. Oben sei es dann eine asphaltierte Straße. Am Talhang würden die Ortschaften Unter- und Oberschleichach kommen. Und schließlich Knetzgau. Letztendlich müsste ich von dort nur noch einmal der Länge nach hinfallen und hätte mein Hotel erreicht. Ein Wohlklang in meinen Ohren. So verabschiede ich mich von dem Herrn und nehme die letzten Kilometer ins Visier.
Zwischendrin rufe ich noch einmal bei meinem Hotel an. Man sagt mir, dass deren Restaurant heute nicht geöffnet sei. Wenn ich also etwas essen möchte, dann muss ich noch woanders einkehren. Das sei kein Problem. Ich könne dann anrufen, wenn ichvor der Tür stehe. Man wohne lediglich auf der anderen Straßenseite und würde mich dann reinlassen, wenn ich da bin. Also suche ich mir noch eine Wirtschaft. Aber irgendwie ist das ein Fehler. Die Nässe ist noch immer am Körper. Es dauert nur Minuten und ich friere wie ein Schneider. Mehr stopfend schlinge ich die warme Speise in mich hinein. Ich muss raus aus den Klamotten, brauche eine heiße Dusche und ein warmes Bett. Von Gästen des Lokals erfahre ich, dass am heutigen Tag Schnee in der Rhön gefallen ist. Ich mache innerlich Jubelsprünge. Dorthin soll die morgige Etappe hinführen. Und Winterkleidung habe ich nicht dabei.
Fahrstrecke: 138,65 km
Höhenmeter: 764 m
Zeit: 10:06 h
D.-geschw.: 13,78 km/h
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Wow Karsten. Könnte nicht aufhören zu lesen. Freu mich schon auf den nächsten Teil. LG Hanne
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