Menschen
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25.07.2019
Mit Rückenschmerzen werde ich wach. Die Matratze hat fast die gesamte Luft verloren. Lotte liegt auf ihrem Kissen und blickt etwas teilnahmslos in den leeren Raum hinein. Ich sitze da und lasse das Erlebte der vergangenen Tage noch einmal durch meinen Kopf wandern. Die Geschichte mit der Feuerwehr nimmt dabei einen Hauptteil ein. Ich finde es immer noch komisch. Wie dem auch sei. Es ist passiert, wie es passiert ist. Ändern kann ich es nicht. Also beginne ich langsam meine Sachen zu packen.
Als nur noch die Planenunterlage vorhanden ist, packt mich ein weiteres Mal die Faulheit. Ich liege auf dem Bauch und blicke auf Blümchenhöhe über die Wiese. Was hier für ein Verkehr ist. Das ist ja gewaltig. Über die gesamte Fläche wächst eigentlich nur eine Blumenart. Das Ferkelkraut. Eine Pflanze, die dem Löwenzahn sehr ähnlich sieht. Dazwischen summt und surrt es. Bienen, Schwebfliegen und Hummeln. Besonders letztgenannte zaubern mir immer wieder ein Schmunzeln aufs Gesicht. Durch die langen, schlanken Stiele des Ferkelkrauts senken die Blumen jedes Mal ihr Haupt, wenn eines der kleinen, fliegenden Schwergewichte auf ihnen landet. Und immer wieder schnellen sie auf, baumeln einige Male hin und her, wenn die Hummel weiter fliegt. Das so zu beobachten lässt mich die Zeit völlig vergessen. Lotte gerät hin und wieder in Wallung, wenn ein Grashüpfer auf der Plane landet. Es ist klein und es bewegt sich. Das ist interessant. Also schiebt sie ihre Nase vor. Da hüpft das winzige Ding doch wieder weg. Warum? Wo ist es hin? Lotte wirkt mit diesen Reizen überfordert. Da! Noch ein Grashüpfer. Und schon ist er wieder weg. Er hängt an dem Blumenstiel. Bleib doch mal hier! Nein. Wieder weg. Ist ja verrückt. Direkt vor mir baumelt abermals eine Hummel an einer Ferkelkrautblüte. Ich könnte hier noch länger liegen. So komme ich aber nicht nach Cuxhaven. Ich brauche eine neue Schlafunterlage. Außerdem wird es immer wärmer. Eigentlich bin ich dumm, dass ich erst in den späten Vormittagstunden starte.
Während ich nun Richtung Ortsausgang von Lüdingworth laufe, kommt mir der Gedanke nach einem kalten Kakao in den Kopf. Das wäre es jetzt doch! Mal einen anderen Geschmack auf der Zunge spüren. Ist das dort eine Tankstelle? Ja! Schnell die ein- zweihundert Meter die Straße hinein. Geschlossen! Nein! Dann halt weiter. Ich habe mir vorgenommen bis Sahlenburg zu laufen. Von dort an der Nordseeküste entland in die Elbemündung rein. In Lüdingworth sagte man mir, dass das noch gute zwanzig Kilometer seinen. Mein Navi sagt mir vierzehn. Mal schauen, wer Recht hat. Sollte der Herr es sein, der mir die Info zukommen ließ, habe ich ein dezentes Problem. Das würde bedeuten, dass ich heute an die dreißig Kilometer herankommen werde. So wirklich wollte ich das bei der Hitze nicht laufen. Aber ich warte erst einmal ab. Vielleicht ist das Navi ja mal auf meiner Seite.
Laut Wetterapp soll es heute nicht so warm werden. Den Eindruck habe ich auch tatsächlich. Was mir jetzt allerdings an die Substanz geht, ist, dass die Luft immer drückender wird. Liegt das an der Nordsee? Könnte das sein? Es weht zwar ein leichter Wind, aber irgendwie ist der nicht hilfreich. Mir tun die Füße weh. Über die letzten Tage habe ich mir wieder einige Blasen gelaufen. Wie letztes Jahr eigentlich. Da bin ich davon auch nicht verschont geblieben. Mein Gang hat sich auch nicht sonderlich zum Besseren geändert. Es ist mehr ein weiterschleppen. Die Suppe rinnt von der Stirn. Jedes Ausatmen ist ein Schnaufen. Nur Lotte scheint das alles nicht wirklich zu jucken. Die sitzt in ihrer Box und lässt sich durch die Gegend schieben. Hund müsste man sein. Bereits am gestrigen Tag habe ich sie kaum selber laufen lassen. Mittlerweile hat Lotte begriffen, dass es etwas Gutes ist. Sie hat sich so in die Box gehauen, dass das Verdeck zu einer Seite richtig nach außen wölbt. Wie ein Schluck Wasser in der Kurve sitzt sie da und beäugt aufmerksam die Umgebung. Ab und an äußert sie mit einem Winseln, dass sie wieder laufen möchte. Ich quittiere es dann einfach mit dem Satz, dass sie nicht dran sei. Wie sonst auch herrscht die nächsten Minuten Ruhe und sie schaut weiter in die Weltgeschichte. Der Hund ist schlicht eine Granate.

Ich erreiche den Wald von Sahlenburg. Durch eine Siedlung gelange ich auf den Waldweg. Da stutze ich. Ich sehe in der Entfernung ein schäferhundartiges Geschöpf. Einen Menschen kann ich nicht erblicken. So schnell wie ich ihn sehe, so schnell ist das Tier wieder zwischen den Bäumen verschwunden. Habe ich gerade einen Wolf gesehen? So dicht an einer Siedlung? Ich weiß es nicht. Kann auch ein Hund gewesen sein, der von seinem Zuhause ausgebüxt ist. Oder ich habe das Herrchen einfach nicht erblickt. Kann ja alles möglich sein. So wander ich über die Waldwege und gelange immer dichter an die Nordseeküste.
Mein Trinkwasser ist schon wieder so entsetzlich warm. Widerwillig zwinge ich einige Schlucke hinunter. Kann es nicht zehn Grad kälter sein? Also als Gesamtsituation. Nicht nur das Wasser. Einfach alles. Es wäre so vieles einfacher. Nein. Leider nicht. Ausgerechnet diese Woche ist die, in der Deutschland von einer Hitzewelle erfasst wird. Da erblicke ich einen Milchhof mit einem Melkhus. Einer kleinen Hütte, wo man seine Milch selber zapfen kann. Das ist es! Es ist kalt. Es ist erfrischend. Ich kann Pause machen. Binnen kürzester Zeit habe ich zwei Liter Milch im Bauch. Ich hocke auf meinem Campingstuhl vor der Hütte und falle auf den Hintern. Eines der Stuhlbeine war nicht richtig in seiner Führung. Was ein Mist. Nach der Matratze jetzt also der Stuhl. Ich habe Glück. Das Bein ist zwar etwas deformiert. Die Funktion als solches ist aber nicht eingeschränkt. So genieße ich den Schatten der Hütte. Lotte wird vom Hofhund beschnuppert und umgekehrt. Andere Leute tauchen auf, zapfen sich Milch. Eine Urlauberin sucht das Gespräch und spricht das Wetter an. Ich bestätige, dass es nicht einfach sei, bei der Hitze diese Tour zu machen. Da fängt die an von Essen zu reden, dass es dort ja viel heißer sei. Ist das jetzt ein Wettbewerb der Prahlerei, wo es am Wärmsten ist? Wir sind hier in Cuxhaven/Sahlenburg und nicht in Essen! Da platzt mir glatt der Hintern. Wie kann man nur so … ? Reg dich nicht auf. Menschen.
Ein weiterer Milchabholer taucht auf der Bildfläche auf. Just in dem Moment, wo ich mit dem Junior des Hofes quatsche. Die Zwei sind mir echt sympathisch. Ich bekomme Tipps, wie ich am Besten weiterziehen solle. Wo ich am Abend nächtigen kann und so weiter. Das ist echt cool und lässt mich die Tante von vorhin schnell vergessen. So gehe ich schließlich weiter Richtung Uferpromenade. Die Dichte an Menschen nimmt hier gewaltig zu. Das egoistische Denken einiger auch. Da wird man fast von den Radfahrern über den Haufen geradelt. Wie groß soll ich mit meinem Handwagen noch sein? Bleib ruhig. Atme. Es war abzusehen, dass es hier so ähnlich ablaufen könnte. Lange bleibe ich nicht am Dünenweg. Ich muss abkürzen. Die Zeit wird knapp. Ich habe zwar noch etwas mehr als eine Stunde, bis mein Geschäft schließt. Ich muss aber auch noch fünf Kilometer laufen. Rächt es sich jetzt, dass ich heute Morgen so lange auf der Wiese gelegen habe? Ich hoffe nicht.
Diese ätzend drückende Luft. Meine Füße. Diese bescheuerte Hitze. Ich werfe einen Blick auf das Navi. Komme ich überhaupt vorwärts? Ich erblicke eine Bank. Setz dich fünf Minuten hin. Es sind noch zwei Kilometer zu laufen. Eine Dreiviertelstunde hast du noch. Da fällt mir an der Ampel eine Frau mittleren Alters auf. Ob bei ihr alles in Ordnung sei, frage ich. Sie klingt erschöpft und etwas weinerlich. Ihr sei so heiß. Ihre Kehle würde so sehr brennen. Ob ich etwas zum Trinken habe. Ich nicke, warne sie aber, dass das, was ich habe pisswarm ist. Sie nimmt die Flasche und gönnt sich ein paar Schlucke. Ob ich die Flasche noch brauchen würde? Sie hält das Behältnis wie ein kleines Kind an ihre Brust. So ganz sauber scheint die im Kopf nicht zu sein. Ich lasse ihr das Wasser. Aber verrückt finde ich es dennoch. Wie kann man mitten in der Stadt fast vor Wassermangel aus den Latschen kippen, wo man doch an jeder Ecke etwas zu trinken bekommen kann? Gut zu ihrer Verteidigung: Ich kenne ihre finanzielle Lage nicht. Sprich, ob sie gerade jetzt etwas Geld in der Tasche hat. Kann ja auch sein, dass sie ohne aus dem Haus ist. Dennoch betrachte ich ihre Situation als leichtsinnig.
Auf dem letzten Drücker erreiche ich mein Geschäft. Eine Schlafunterlage bekomme ich tatsächlich. Etwas aus den Restbeständen. Um die Hälfte reduziert. Ich zahle dennoch fast fünfzig Euro. Wenn das reduziert war, wie teuer war es denn vorher? Egal. Es fällt mir ein Stein vom Herzen. Ich habe es geschafft. Was jetzt? Jetzt geht es in die Kneipe, die ich auserkoren habe, um hier das erste große Zwischenziel zu feiern. Frei nach dem Motto: »Satt gibt es nicht. Es gibt nur ›Hunger‹ oder ›Schlecht‹«, rolle ich am späten Abend aus dem Gebäude. Ich muss nun einen Platz zum Schlafen finden. Am Besten, bevor es dunkel wird. Die Zeit drängt.
An der Hafenpromenade werde ich von einer Gruppe Herren nebst einer Dame angesprochen. Allesamt rotze voll. Es sind Krabbenkutterkapitäne, die den Abend ausklingen lassen. Eine Welle an Fragen bricht über mich hinein, die ich bereitwillig beantworte. Diese Fragen beantworte ich in anderer Konstellation bestimmt noch ein zweimal mehr. Aber interessant ist es allemal. Diese Menschen sind vom Charakter her überaus rau und ihr Wortschatz reicht von einfach bis vulgär. Mag vielleicht gerade an ihrem derzeitigen Zustand liegen. Man braucht schon ein dickes Fell, wenn man sich mit ihnen unterhält. Auch fallen einige Äußerungen, die in die braune Ecke reichen. Das überhöre ich einfach. Schön finde ich es zwar nicht. Einiges treibt mir auch die Schamesröte ins Gesicht, aber wenn man mal einen ruhigeren Moment dazwischen erhascht, dann ist es durchaus witzig mit ihnen. Von ihnen bekomme ich einen Wink, wo ich mein Zelt hinstellen könne. Oder ich kann in einer der Kojen an Bord schlafen. Das wäre natürlich auch mal interessant. Auf einem Krabbenkutter pennen. Als ich jedoch die Kojen sehe, entscheide ich mich dann doch an Land bei meinen Sachen zu bleiben. Die hätten nicht mit aufs Schiff gekonnt. Dafür ist die Ebbe zu weit vorangeschritten. Also bleibe ich auf dem Festland und schlafe auf meiner neu erworbenen Schlafunterlage.
Laufstrecke: 25,18 km
Höhenmeter: 28 m
Zeit: 5:06 h
D.-geschw.: 4,93 km/h
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