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Satz mit ›X‹, das war nix.

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26.09.2019

Keine Ahnung, was mit mir los ist, wenn ich mit dem Rad oder zu Fuß unterwegs bin. Jedenfalls schlage ich den Wecker um Längen. Blinzelnd werfe ich einen Blick auf die Uhr. Dann aus dem Fenster. Es ist halb sieben und noch dunkel draußen. Ja, das Jahr neigt sich langsam aber sicher immer mehr dem Ende entgegen. Bald fallen die Blätter von den Bäumen, wobei, das geschieht ja schon vereinzelt. Die Pilze sprießen in Scharen aus dem Boden. Das Wetter wird rauer. Aus meinem Zimmer heraus kann ich Türen und Schritte hören. Die Monteure, die mit mir hier sind, scheinen sich für die Arbeit fertig zumachen. Wenn die schon umherwuseln, dann kann ich das auch. Immerhin habe ich heute richtig was vor. Noch dazu könnte es nach zwölf Jahren zu einem Wiedersehen kommen.

Vor der Tür gibt es noch einen kurzen Plausch mit eben genannten Monteuren, ehe ich um halb acht auf der Straße bin. Ich folge Wirtschaftswegen und bin in Nullkommanichts auf einer Brücke über der Autobahn eins. Ein Beweisfoto geschossen und noch einen Augenblick auf die unzähligen Autos geschaut, deren Fahrer von A nach B hasten. Es ist abermals diese riesige klaffende Schlucht zwischen Wahnsinn und Hast und völliger Ruhe. Und wenn man sich das einmal vor Augen führt, dass das jeden Tag so geht. Für sehr viele von uns. Also, das mit dem Wahnsinn. Nur nicht für mich. Jetzt gerade zumindest nicht. Jede Minute wird in vollen Zügen genossen. Der Fahrtwind säuselt mir um die Nase. Die kalte Morgenluft gibt mir das Gefühl, als könne ich jede Alveole meiner Lunge einzeln spüren. Der Tacho zeigt in steigender Weise die geschaffte Entfernung an. Das Navi präsentiert mir diesen Wert in sinkender Form. Die Kette surrt gleichmäßig zu den Pedalumdrehungen. Die Feuchtigkeit auf der Straße hinterlässt dieses signifikante Geräusch, das es gibt, wenn man über nassen Untergrund fährt. Ich weiß nun gerade nicht, was ich als Metapher dazu heranziehen kann. Aber ich glaube jeder weiß, was gemeint ist.

Bild 1: Über der A1 – Bild 2: Die Weser – Bild 3: Das Warten auf Frühstück – Bild 4: Bei Barbusch ist es dann soweit.

Von den Monteuren habe ich vorhin noch die Hiobsbotschaft bekommen, dass es an diesem Tag viel Regen geben soll. Gegen Mittag soll es losgehen. Dauerregen und so. Sonderlich scharf bin ich auf eine andauernde Dusche zwar nicht, muss die Umstände aber hinnehmen, wenn sie denn eintreten. Was mich jedoch äußerst fröhlich stimmt. Es ist kein Wind. Also, Wind Wind. Das ermöglicht mir eine recht hohe Geschwindigkeit. Das quietschen die Bremsen. Ich habe die Weser erreicht. Hier ein Bild, dort ein Bild. Oh, dahinten ist ein Reiher und hofft auf Beute. Abgelichtet! Hinter der Weserbrücke geht es wieder weg von den Hauptstraßen. Ich entdecke kleine verschlafene Dörfer. Keine Seele ist hier auf der Straße unterwegs. Halt, doch. Da kommt ein Auto. Eins. Ansonsten habe ich die Wege für mich alleine.

Außerhalb des kleinen Örtchens ›Barbusch‹ entdecke ich ein Pausenhäuschen mit Bänken und Mülleimer. Das gehört mir. Frühstück ist angesagt. Während ich mir also etwas Proviant in die Backentaschen schiebe, kommt eine Dame mit ihrem Hund um die Ecke gelaufen. Ein aufgeweckter, neugieriger Rüde springt mich an. Ihm schnell einen Knuddel verpasst und einen kurzen Plausch mit dem Frauchen, da sitze ich auch schon wieder im Sattel. Bis ›Affinghausen‹ geht es problemlos weiter. In dem Ort selber fühle ich mich zwanzig Jahre in die Vergangenheit katapultiert. Ich stehe in einem Tante Emma Laden. So ganz wie früher. Mit Dorftratsch, dass Hans-Hubert geheiratet hat. Das Onkel Heinz irgendwas Gesundheitliches hat. Es werden die Leerkisten aus dem Auto ins Geschäft getragen und die Kofferraumklappe bleibt während des Einkaufs die ganze Zeit offen. Ich könnte diesem Treiben noch länger zuschauen. Ich muss mich aber beeilen. Muss ich doch bei Zeiten in Borgholzhausen sein, damit das mit dem Wiedersehen klappt. Ich habe nämlich schon eine ganz grobe Prognose abgegeben, wann ich in etwa damit rechne, dort einzutreffen. Vorausgesetzt, da kommt nichts Gravierendes dazwischen. Wind zum Beispiel.

Die anfängliche Geschwindigkeit ist lange Vergangenheit. Jetzt ringe ich gerade um jeden Meter. Der Schweiß läuft mir von der Stirn. Die gleichmäßige Atmung ist einem Schnaufen gewichen. Die Wolken scheinen über mich hinweg zu rasen. Was aber auch einen Vorteil hat. Alles, was der Wind an mir vorbei pustet, kann mir im späteren Verlauf nicht mehr auf den Kopf regnen. Dennoch ist das gerade eine glatte Sechs. Es lief doch alles so gut. Auch hat sich das idyllische Radeln erledigt. Ich folge jetzt der Bundesstraße Richtung Diepholz. In ›Suhlingen‹ treffe ich dann doch noch einen weiteren Radreisenden, der Amsterdam als Ziel hat. Er möchte dort am kommenden Sonntag ankommen. Wie viel er so am Tag macht, möchte ich wissen. Einhundert Kilometer ist die Antwort. Bis auf meinen heutigen Ausreißer ist das in etwa das Gleiche an Entfernung, was auf mich die kommenden Tage zu kommt. Mit Gegenwind allerdings ist das nicht so ganz das Zuckerschlecken. So wünscht man sich gegenseitig gute Weiterfahrt.

In ›Wagenfeld‹ geht nichts mehr. Ich brauche eine Pause. Etwas Warmes zum Essen wäre klasse. Da springt mir schon ein Imbiss ins Auge. Kaum habe ich meine Stärkung vor mir stehen ist es aus mit der Ruhe. Eine Gruppe Leute betritt den Laden. Sie stürmen zielstrebig auf die Bedienung zu. Sechs Leute quatschen zeitgleich auf die Arme frau ein. Auf Englisch. Nachdem gefühlt jeder von ihnen einmal gefragt hat, ob sie denn auch Englisch spricht, nimmt die Intensität des wilden Gebrabbels aus Bestellungen noch einmal zu. Anstatt einen vorzuschicken, der für alle bestellt. Nein. Alle zeitgleich. Ich fange unbewusst das Schlingen an. Das ist mir jetzt zu wild hier. Da geht die Eingangstür wieder auf. Noch mehr Iren. Nachdem man bei den anderen auf die Teller geschaut, gar mit den Fingern in deren Essen gefuhrwerkt ist, stürmen auch sie auf die Bedienung zu. Wieder fragen vier Leute, ob man hier Englisch spricht. Jetzt antwortet sie mit ›Nein‹. Gut, kundenfreundlich ist das nicht gerade, aber wer als Gast solch ein Chaos binnen Minuten anrichtet, kann ich die pampige Reaktion durchaus verstehen. Ein drittes Mal geht die Tür auf. Nor mehr Iren. Ist hier irgendwo ein Bus geplatzt? Ist ja verrückt. Noch mehr betreten den Imbiss. Es herrscht mittlerweile ein Geräuschpegel, als würde ich im Stadion stehen. Ich stopfe mir die letzten Pommes in den Mund uns suche das Örtchen auf. Als ich wenige Minuten wieder den Gastraum betrete, steht der ganze Laden voll. Es ist noch lauter geworden. Jetzt aber schnell weg. Das ist eindeutig zu viel des Guten.

Bild 1: Richtung Engeln – Bild 2: Die Behlmer Mühle – Bild 3: Die alte Wassermühle von Suhlingen

Kaum zurück im Sattel, beginnt es zu regnen. Auch das noch. Damit habe ich für heute dann alles abgearbeitet. Oder? Ein Überraschungsweg fehlt noch. Ein Pfad, wo Rad fahren unmöglich ist, weil alles verwachsen, aufgeweicht oder geröllig ist. Naja, von diesen drei Dingen ist nichts dabei. Ich bin auf einer Sandpiste gelandet. Pudersand. Halb feucht, Alb trocken, weil die Feuchtigkeit noch nicht ganz durchgedrungen ist. Also jetzt doch schieben. Wenige hundert Meter. Ja, das mache ich mit. Und jetzt? Links. Das Navi zeigt einen befestigten Wirtschaftsweg an. – Ja. – Wirtschaftsweg. Genau. Will mich das Teil verarschen? Ich blicke auf eine kilometerweite Grünfläche. Der Weg, der mir angezeigt wird, ist ein Fahrzeug breiter Streifen, den man in die Vegetation gemäht hat. Das ist nicht wahr. Wie weit soll ich dem Pfad folgen? Vier Kilometer? Wie soll das denn bitte gehen? Ich verliere da jedes angepeilte Ziel aus den Augen! Es sprengt alles, was ich kalkuliert habe. Aber was machen? Nun stehe ich hier in der Wallerpampa. Ich schiebe meinen Zossen durch das Grün. Da tauchen Vertiefungen links und rechts im Untergrund auf. Teichgroß. Ohne Bewuchs zeigt sich mir eine schwärzliche Masse von einzelnen Rissen durchzogen. Ich bin in einem Moor gelandet. Ein Moor! Das ist wirklich nicht wahr! Ich dreh mich herum und schaue zurück. Ich werfe einen Blick auf das Navi. Ist hier irgendwo eine Hauptstraße, dass ich hier rauskomme? Ich ändere den Maßstab der Karte. Alle Wege um mich herum werden als Wirtschaftsweg angezeigt. Wenn ich eine Kreuzung antreffe, ist auch hier abgemähte Vegetation den Untergrund. Da habe ich mich ja in etwas reingeritten. Verfluchte Kotzkacke! Da entdecke ich endlich den rettenden Strohhalm. Ein Wegweiser zu einem Parkplatz.

Endlich habe ich wieder Asphalt unter den Rädern. Wie viel Zeit ich verloren habe? Zuviel. Ich rufe meine Herberge an, dass sich meine Ankunftszeit nach hintern verschiebt. Noch dazu muss ich bei einem Bauern einmal das Örtchen aufsuchen. Patschnass stapfe ich über seine Diele. Jeder Schritt erzeugt das Geräusch, als würde ich auf einen nassen Schwamm treten. In einem kurzen Gespräch mit dem Hauseigentümer erfahre ich, dass ich einen Abstecher ins ›Oppenweher Moor‹ gemacht habe. Dass das Gebiet riesig sei. Das hätte ich gemerkt. Die Motivation weiter zu radeln ist gerade auf dem Tiefpunkt. Eigentlich möchte ich hier hinschmeißen und mir eine Unterkunft suchen. Es geht aber nicht. Ich habe vorgebucht und möchte diese Etappe unbedingt wie geplant beenden. Noch dazu würde sich die morgige Etappe auf fast einhundertsiebzig Kilometer verlängern. Das wäre nicht machbar. Nicht bei dieser Witterung. Ich muss weiter. Außerdem möchte ich die Person von vor zwölf Jahren wieder sehen. Also kämpfe ich mit Wind und Regen um jeden weiteren Kilometer. Um jeden Meter. Jeden Zentimeter.

Endlich springt mein Tacho auf einhundert Kilometer. Ich bin dreistellig. Diesbezüglich fällt mir ein riesiger Stein vom Herzen. Und doch sind noch immer vierzig Kilometer zu radeln. Mein Abstecher ins Moor hat mich streckentechnisch aus der Bahn geworfen. Dass es leichte Zunahmen der Entfernung am Tag gibt, ist eigentlich normal. Es mag an der nicht ganz genauen Einstellung vom Tacho liegen. Oder, weil man eben kleinere Umwege in Kauf nehmen muss. Die Sonne steht schon wieder verdammt tief. Es wird auf alle Fälle dunkel sein, wenn ich in Borgholzhausen ankomme. Da taucht das Bundeslandschild von Nordrheinwestfalen auf. Damit habe ich diesen Meilenstein auch hinter mir. Es ist ein Mix aus Euphorie und Frust. Euphorie, dass man es soweit geschafft hat. Frust, weil es nicht schneller ging. Ich pruste, puste und schnaufe. Strampel, trete und lasse die Pedale kreisen. Ich muss … die Zeit läuft mir weg!

In Melle sind es noch immer über zehn Kilometer. Das Tageslicht ist längst der Dunkelheit gewichen. Die Scheinwerfer der passierenden Autos blenden mich. Die Reflexionen auf der nassen Straße tun ihr Übriges. Ich muss weiter. Ich werfe alles noch vorhandene in die Waagschale. Noch dazu hat man hier wieder am Radweg gespart. Ich teile mir in dieser Schwärze bei Steigungen, Gefälle und Kruven die Straße mit den Kraftfahrzeugen. Noch dazu starten hier gerade die Lastkraftwagen eines Paketzustellers. Eine ganze Flotte donnert an mir vorbei. Schleudert mir die aufgewirbelte Gischt ins Gesicht.

Bild 1: Eine weitere Mühle – Bild 2: Im Oppenweher Moor falsch abgebogen – Bild 3: Weiter Richtung Melle

Übelkeit steigt mir wieder in den Hals. Wie am Vortag stehe ich sinnbildlich mit leerem Tank da. In Windeseile hole ich meine Notlimonade hervor und schütte mir den Liter kompromisslos in den Hals. Ich werfe einen Blick auf das Navi. Ich komme dem Ziel Näher. Es sind keine vier Kilometer mehr. Ich kann die Dusche in der Herberge schon rufen hören. Ebenso das Bett. Aber zuvor freue ich mich auf das Wiedersehen. Ich schreibe, dass ich es bald geschafft hätte. Jedoch mit Verspätung. So geht es auf die finale Strecke.

Berauscht brause ich ins Tal und muss aufpassen, dass ich auf regennasser Straße in der Kehre nicht aus der Kurve fliege. Endlich kann ich die Häuser von Borgholzhausen sehen. Endlich bin ich am Ziel. Schnell noch die Pension gefunden und aufs Telefon geschaut. Eilig zu Hause angerufen, dass ich mein Ziel erreicht habe. Da bekomme ich eine Meldung, dass das Treffen nichts wird. Eine Stunde zu spät sei ich da. Um diese Zeit würden die Kinder im Bett liegen und ein Verlassen des Hauses sei nicht mehr möglich. Es sei um diese Uhrzeit zu spontan.

In der Pension werde ich gefragt, ob ich noch essen gehen möchte. Ich verneine. Meine abendlichen Pläne hätten sich zerschlagen. Ich habe keinen Hunger mehr. So gönne ich mir eine heiße Dusche und gehe gefrustet ins Bett. Auf einhundertvierzig Kilometer alles aus dem Körper herausgeholt für dieses Wiedersehen und dann das. Ich möchte mir an dieser Stelle ungerne Versagen vorwerfen. Einzig der Abstecher ins Moor. Das kreide ich mir an. Ansonsten habe ich gegen Wind, Regen und am Ende Steigungen, bei einer Stunde ›Verspätung‹, alles gegeben …

Fahrstrecke: 142,57 km
Höhenmeter: 459 m
Zeit: 10:30 h
D.-geschw.: 13,36 km/h

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