Thüringen, ade! – Bayern, hallo!
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04.08.2020
Die klare Luft an diesem Morgen. Der sanfte Wolkenschleier über mir. Am Horizont die gelbliche Färbung durch die Sonne. Die Sicht durch das Tal. Die sanften Gefälle der Berge. Das satte Grün der naheliegenden Wälder. Ich schaue auf die Uhr. Heute kann es der Tag werden. Der absolut perfekte Tag. Wenn ich mich ranhalte. Ich krame meine Sachen aus dem Zelt und verstaue es auf dem Wagen. Jetzt nur noch meine Behausung zerlegen. Dann bin ich noch weit, weit vor acht Uhr auf der Straße. Doch bevor ich die letzten Handgriffe verrichten kann, werde ich von einem Jogger angesprochen. Er würde hier nun schon zwanzig Jahre laufen, aber ein Zelt hat er hier noch nie gesehen. Als ich dann erzähle, wo ich her, und wie lange ich schon unterwegs bin, fallen ihm metaphorisch die Augen aus dem Kopf. Wo ich heute ankommen möchte? Ich habe nicht den Hauch einer Ahnung. Ich werde dem Radweg weiter folgen. Wenn ich keine Lust mehr habe, dann baue ich mich irgendwo hin, oder ich habe das Glück und irgendeine ungewöhnliche Unterkunft.

Ich laufe mit Lotte durch Sülzfeld und weiter nach Hermansfeld. Hier begegne ich zwei Herren, die neugierig fragen, warum ich so breit grinse. Ich bin in Bayern! Von Hamburg aus. Zu Fuß. – Nein, bist du nicht! – Nein? Mir fehlen noch fünfhundert Meter. Aber die ganzen Kennzeichen mit dem bayrischen Landkreisschild. Die arbeiten hier nur. Ach, verdammt! Alle Glückshormone umsonst rausgeschmissen. Nun stiefeln sie mit hängenden Köpfchen wieder in ihre Boxen zurück. Dann muss ich meine Freude halt noch etwas konservieren.
Bergiger ist es heute. Ich muss häufiger Anstiege überwinden. Gut, das stand in der Wegbeschreibung, die ich über den Meiningen-Haßfurt-Radweg wenige Tage zuvor gelesen habe. Dort wurde er als »buckelig« bezeichnet. Das kann ich bestätigen. Schließlich ist der Moment gekommen. Ich stehe an der Landesgrenze Thüringen/Bayern. Ich grinse, als hätte ich einen Kleiderbügel quer im Gesicht hängen. Ein irres Gefühl. Noch dazu habe ich wenige Meter zuvor die Marke für fünfhundert Kilometer geknackt. Lotte wirkt etwas überfordert, als ich versuche sie in einer passenden Haltung vor meinem Wagen, neben der Beschilderung zu positionieren. Das reicht hier doch alles so toll. Warum muss ich jetzt …? Herrchen ist komisch! Der Auslöser klickt einige Male. Sollte reichen. Also entlasse ich Lotte wieder in der Welt der Gerüche sowie der Samen und Kletten.
Bis Eussenhausen geht es über Wirtschaftswege. Ab da stehe ich vor der Wahl. Weiter über diese, oder an der Hauptstraße nach Mellrichstadt? Ich habe Hunger. Ein Bäcker wäre klasse. Ein Supermarkt gigantisch! Ich laufe nach Mellrichstadt und finde schnell, was ich suche. Witzig ist es auf solchen Parkplätzen immer, wie die Leute gucken, wenn ich als Kuriosität auf der Bildfläche erscheine. Eigentlich müsste ich von jedem fragenden Gesichtsausdruck auf Foto schießen. Da würde so mancher Schnappschuss bei entstehen. Die Collage der Verwunderung. Ein modernes Kunstwerk, das irgendwann für Millionen an einen Sammler geht. – Ach, die wilden Spinnereien, die immer mal wieder aufkommen.
Das Knistern der krossen Brötchen. Der Duft. Ich habe mich vor dem Markt niedergelassen. Nebenan ein Grillimbiss, der wegen Urlaub nicht besetzt ist. Die Tische und Stühle hat man aber stehengelassen. Herrlich! Es dauert nicht lange und ich bekomme Besuch. Spatzen haben schnell Wind davon bekommen, dass da wer sitzt und rumkrümelt. So hopsen die kleinen Piepmätze zwischen Tisch und Stuhl und versuchen etwas abzugreifen. Lotte döst im Schatten und bekommt von alldem nichts mit.
Im Stadtkern selber bekomme ich einen Schreck. Ich bin nur noch sechzehn Kilometer von Bad Neustadt an der Saale entfernt. Ich bin … in der Rhön! Deswegen wurde der Weg als buckelig bezeichnet. Und jetzt? Meine Gedanken spielen völlig verrückt. Was ist, wenn mich die Berge so ausbremsen, dass ich mein Ziel nicht erreiche? Wie laufe ich jetzt weiter? Weiter am Radweg? Oder nach Bad Neustadt, von wo ich den Weg nach Haßfurt kenne? Was wäre schlimmer? Was würde mehr Zeit kosten? Wie viele Berge könnten noch kommen? Bei Bad Neustadt kenne ich einen großen Anstieg. Dahinter ist es lässig. Aber die sechzehn Kilometer davor? Der Radweg ist mir völlig unbekannt. Was mache ich jetzt? Ich schaue auf die Uhr. Ich halte mich am Plan und laufe den Radweg weiter. Wenn ich es nicht schaffe, dann ist das so. Krampfhaft klammer ich mich an den Gedanken. Es wäre nicht so wild. Ich bin so weit gekommen. Versuche den Moment zu genießen. Wie die Tage zuvor auch. Mach dich nicht verrückt.

Gespräche mit Radfahrern reißen mich aus meinen trüben Gedanken. Hier für ein Foto posieren, dort eine Hilfestellung, was mein Weg nach Bad Königshofen betrifft. Ich soll bis Heustreu laufen. Ab da gäbe es einen alten Bahndamm, den man als Radweg hergerichtet hat. Der führt direkt nach Bad Königshofen. Das klingt doch nett. Aber laufen werde ich ihn nicht. Mein Kopf hat sich wieder so auf den Meinigen-Haßfurt-Radweg festgebissen, dass ich der Beschilderung folge. Hinter Oberstreu geht es also wieder einen Anstieg hinauf. Zwei Kehren muss ich laufen. Ob das wirklich eine so intelligente Idee war? Ich drehe mich um und lasse den Blick über das Tal schweifen. Da hinten ist Mellrichstadt. Dort unten Oberstreu. Von dort bin ich gekommen. Doch, der Weg hat sich gelohnt. Hier laufe ich weiter.
In Hendungen ist meine Motivation dann jedoch aufgebraucht. Ich würde mich gerne irgendwo niederlassen. Dort ein Angelteich. Hier wäre es bestimmt schön. Weiter hinten sind Angler, die gerade Grill und Zelt aufbauen. Ich blicke wieder auf die Uhr. Ich kann mein Nachtlager noch nicht aufschlagen. Es ist viel zu früh. Was ist, wenn ich das Ziel verpasse, weil ich mich hier breitmache? Weiter! Der Weg führt in einen Wald. In dieser Phase der heutigen Etappe verfalle ich in eine Art Standbymodus. Automatisiert setze ich einen Fuß vor den anderen. Gedanken habe ich keine. Es ist leer. Alles. Ich nehme das Knarzen des Wagens wahr. Das Knistern der Schottersteinchen. Lottes klimpernde Marke. Sonst ist da nichts.
Eine Hütte am Wegesrand weckt mein Interesse. Das »grüne Klassenzimmer« steht auf einem Schild. Bänke und Tische verraten, warum die Hütte so heißt. Zum Ende hin ist eine Tür, die offen ist. Eine kleine Abstellkammer. Das wäre doch etwas. Kein Zelt aufbauen. Einfach die Luftmatratze auf den Boden und schlafen. Kraft tanken. Nein! Es ist zu früh! Lauf! Jeder weitere Schritt bringt dich näher ans finale Ziel!
Ich schlurfe an Bäumen und Sträuchern vorbei. Lotte muss ich an die Leine nehmen. Die hat heute zu viel Blödsinn im Kopf. Das will ich Hase und Reh nicht weiter zumuten. Der Wald wird lichter. Weiter vorne kann ich Felder erkennen. Mähdrescher packen gerade zusammen. Siehste, auch die machen jetzt Feierabend. Ich blicke ein weiteres Mal auf die Uhr. Ja, jetzt komme ich in die Phase, wo man sich nach einem Nachtlager umschauen kann. Rappershausen wird es nicht. Dafür laufe ich zu weit daran vorbei. In Gollmuthausen ist die Etappe dann endlich zu Ende. Ich lerne Andreas, einen Hobbyschrauber kennen. Alte Mofas haben es ihm angetan. So sitzen wir in seiner Werkstatt und trinken ein Bier. Das Bier des Sieges. Ich bin den perfekten Tag gelaufen. Das, was ich am Morgen erhofft habe. Dass dabei Motivation und Körper leiden werden, war klar. Ich habe mich durchgebissen. Nun sitze ich hier mit der Flasche in der Hand und lasse den kühlen Gerstensaft meine Kehle hinunterfließen.
Später sitzen Andreas und ich dann am Ufer der Milz. Unweit seiner Werkstatt kann ich auf einer Pferdekoppel mein Zelt aufschlagen. Wir lauschen dem Bachplätschern und quatschen über dieses und jenes. Als die Mücken dann zum Buffet blasen, ist der Moment gekommen, in den Schlafsack zu kriechen. Die längste Etappe mit den Bergen der Rhön im Weg. Perfekt!
Laufstrecke: 37,60 km
Höhenmeter: 360 m
Zeit: 7:40 h
D.-geschw.: 4,90 km/h
Schritte: 50649
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